ZentralschweizLuzernVom Swissair-Cockpit ins Klassenzimmer

Vom Swissair-Cockpit ins Klassenzimmer

20 Jahre nach Grounding
Pilot werden und um die ganze Welt fliegen. Marco Estermann hat sich diesen Wunsch erfüllt. Doch nach kurzer Zeit musste er seinen Traumberuf mit dem Grounding der Swissair beerdigen. 20 Jahre später schaut er nochmal zurück – und vermisst seinen alten Job nur noch ein Bisschen.
Publiziert am Sa 2. Okt. 2021 08:54 Uhr
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- Marco Estermann heute im Radio Pilatus Studio und vor rund 20 Jahren als Swissair-Pilot.

«Ich habe mir nie gesagt, ‹morgen musst du arbeiten›. Ich sagte mir immer, ‹morgen darfst du fliegen›.» So beschreibt Marco Estermann seine Zeit als Swissair-Pilot. Eine Zeit, die nicht allzu lange andauern soll. Nach einem Jahr Ausbildung und eineinhalb Jahren auf der Strecke ist 2001 plötzlich Schluss. Am 2. Oktober 2001 bleiben alle Flugzeuge mit dem Schweizerkreuz auf der Heckflosse am Boden. Wenige Wochen später ist die ehemalige Schweizer Institution Geschichte. Und Marco Estermann seinen Traumjob los.

Am Tag des Groundings befindet sich Marco Estermann mit seiner Frau in Warschau in den Ferien. Nach dem Abendessen im Restaurant möchte er, wie gewohnt, mit seiner Firmenkreditkarte bezahlen. «Abgelehnt», sagt die polnische Kellnerin wenig später. Estermann bezahlt bar und denkt sich nicht viel dabei. Doch zurück auf dem Hotelzimmer wartet schon eine Nachricht im Faxgerät. Der Swissair fehlt das Geld für den Flugbetrieb: Grounding.

Wie schlecht es wirklich um die Fluggesellschaft stand, ahnten Marco Estermann und seine Kollegen vor diesem Zeitpunkt nicht. «Wir wussten, dass es uns nicht blendend ging, aber so etwas hätten wir nie erwartet.» Ein Stück weit habe die Belegschaft aber die Probleme ausgeblendet und diese nicht sehen wollen, reflektiert Estermann heute.

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- Das Fliegen beschreibt Estermann als Virus. Schon seit Vater und Onkel waren begeistert vom Fliegen.

«Wir haben die Probleme zum Teil ausgeblendet»

Was folgten, waren Monate der Unsicherheit. «Solange ich noch fliegen durfte, war die Welt noch in Ordnung», beschreibt Estermann den Herbst 2001. Die letzten Monate in der Luft erweisen sich zum Teil als ganz schön kurios. Fast kein Flughafen gewährt dem einstigen Schweizer Flaggschiff noch die Zahlung auf Rechnung. «Wir sind mit Tausenden von Dollars Bargeld in den Koffern geflogen, um Kerosin, Flughafentaxen und Hotels zu bezahlen», erinnert sich Marco Estermann. Dazwischen erfährt er vor allem durch die Medien, wie schlecht es um seinen Arbeitgeber wirklich steht. Die Swissair war mit dem aggressiven Kauf teils maroder Fluggesellschaften zu nah an der Sonne geflogen. Der Staat will die Airline nicht retten. Marco Estermann geht mit seinen Kollegen auf die Strasse, um zu demonstrieren. «Die Solidarität aus der Bevölkerung hat uns gutgetan», so der Ex-Pilot.

Kurz nach Neujahr dann der blaue Brief. Am 15. Januar 2002 fliegt Marco Estermann zum letzten Mal mit einer Swissair-Maschine. Als er wenige Tage später seine Uniform zurückbringen will, ist die Abgabestelle bereits für immer geschlossen, erzählt der 46-Jährige lachend.

Tod eines Bubentraums

Damals war von Lachen noch keine Spur. Die ersten Tage als Ex-Pilot habe er weinend zu Hause verbracht, erzählt Estermann heute. «Es zog mir komplett den Boden unter den Füssen weg.» Die Faszination für Flugzeuge ist bei Marco Estermann Familiensache, das Fliegen beschreibt er als «Virus». Bereits sein Vater und sein Onkel sind geflogen. Mit dem Grounding beginnt der rasante und unverschuldete Tod eines Bubentraums: Wie findet man wieder aus so einem Loch heraus?

Wer mit Marco Estermann spricht, erhält den Eindruck eines rationalen Menschen, der nichts dem Zufall überlässt. Und so beginnt er schon vor dem Swissair-Aus mit der Zukunftsplanung. Noch im Herbst 2001 besucht er unter Tausenden Jugendlichen die Berufsinformationsveranstaltung «Zebi» auf der Luzerner Allmend. «Hotellerie oder Berufsfachschule hat mich sehr interessiert», so Marco Estermann, der ursprünglich Primarlehrer lernte. Da ein Quereinstieg in die Tourismusbranche so kurz nach «9/11» zu riskant scheint, entscheidet sich Marco Estermann zu einem Wechsel vom Cockpit zurück ins Klassenzimmer. Heute ist er Prorektor an der Berufsfachschule für Detailhandelsberufe beim KV Luzern und glücklich.

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- Trägt den Pilotenhut unter dem Arm und nicht mehr auf dem Kopf. Marco Estermann im Radio Pilatus Studio.

Pilot und Lehrer – gar nicht so verschieden

Parallelen zwischen dem Pilotberuf und seinem neuen Job sieht Marco Estermann einige. «In beiden Aufgaben darf ich Menschen auf einer Reise begleiten. In beiden Berufen bin ich für Menschen verantwortlich und will das Beste für sie.»

Ein Comeback als Pilot hätte es durchaus geben können. Der Absender des Briefes, den er 2006 – vier Jahre nach dem Grounding – in den Händen hält, heisst SWISS. «Ich habe mich gar nicht getraut, ihn aufzumachen», erzählt Estermann und lacht. Der Branche geht es etwas besser und die inoffizielle Swissair-Nachfolgerin sucht nach geeigneten Piloten. Marco Estermann lehnt das Angebot ab.

Denn auch wenn ihn das «Virus» noch heute jedes Mal wieder packt, wenn am Himmel ein Flieger vorbeizieht: zurück ins Cockpit will Marco Estermann nicht. Als Ehemann und Vater von zwei Töchtern schätzt er es, heute nicht mehr vier Nächte in der Woche alleine im Hotel zu übernachten.

Als während der Coronakrise die Einreisebeschränkungen kamen, die Flugzeuge wieder am Boden blieben und die Airlines massiv Leute auf die Strasse stellten, kam die eine oder andere Erinnerung wieder hoch. Wohl auch deshalb scheint Marco Estermann seinen Wechsel vom Cockpit ins Klassenzimmer nicht zu bereuen: «Heute bin ich in einer relativen krisensicheren Branche».

    #Zug#Swiss
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